Dienstag, 7. Februar 2012

Tir


Das altenglische Runengedicht.

Dieses Gedicht ist unsere älteste und verlässlichste Quelle für die Namen der Runen und ihre Bedeutung. Leider wurde es 1731 zerstört im Feuer der Cotton Library und ist nur in einer Abzeichnung von 1705 erhalten. 

Für die t-Rune ᛏ lauten die Verse:

 [tir]       biþ tācna sum, healdeð trȳwa wel / wiþ æþelingas, ā biþ on færylde / ofer nihta genipu, nǣfre swīceþ. 
ᛏ [Zier]         ist ein Zeichen, das die Treue wohl hält mit Edlen, immer ist es auf der Bahn über den nächtlichen Nebeln, niemals schwankt es.
Hierzu gibt es mindestens drei wichtige Interpretationen. Meist wird gesagt, der "christliche Redaktor" dieser Rätselgedichte habe den Verweis auf den Gott bewusst unterdrückt, oder schon gar nicht mehr verstanden. Diesen Eindruck teile ich nicht.

Axis Mundi
Oberflächlich betrachtet beschreibt die Strophe ein Sternzeichen oder einen Planeten. Das wird zwar nicht explizit gesagt, aber die verwendeten Vokabeln wie tacn "Zeichen" und  færyld "Bahn" werden sonst in astronomischem Zusammenhang verwendet (für "Tierkreiszeichen" bzw. "Planetenbahn"). Der Vers verwiese also auf einen "treuen" Stern, der immer "auf Kurs" ist. Das Verb swican bezeichnet wörtlich ein Abweichen oder Schwanken, hat aber die moralische Komponente von Täuschung oder Verrat (deutsch gab es einmal schweichen "herum irren oder betrügen"). 

Das beschriebene "Zeichen" ist also der Polarstern, der "über den nächtlichen Nebeln" die Himmelsachse markiert und niemals untergeht. Hierzu gilt es zu beachten: das Gedicht in dieser Form wurde im 8. oder 9. Jh. verfasst. Zu dieser Zeit war α Ursae Minoris (Cynosura) noch nicht einfach "der Polarstern", sondern beschrieb noch einen Kreis um den Himmelspol, war allerdings seit etwa dem 5. Jh. klar der nächstgelegene hellere Stern. Schon um diese Zeit wurde er als αει φανης "immer sichtbar" charakterisiert und für die Navigation verwendet. Bei den Angelsachsen hiess der Stern deshalb (zumindest im 10. Jh.) scip-steorra "Schiff-Stern". Trotzdem war noch im frühen Mittelalter für jeden Beobachter sichtbar, dass der Stern nicht etwa mit der Himmelsachse zusammenfiel, sondern sie "treu" und immer sichtbar auf einer Kreisbahn umrundete (im 9. Jh. mit einem Radius von etwa 7°. Den Namen stella polaris finde ich im 16. Jh.,  zu einem Zeitpunkt, als der Abstand zum Pol noch etwa 3° betrug).

Nebenbei erwähnt sei der Vorschlag, hier ginge es nicht um dem Polarstern, sondern um den Planeten Mars. Ich habe wenig Geduld mit dieser Idee, wenn sie mit einer angeblichen Ähnlichkeit der t-Rune ᛏ mit dem Planetenzeichen für Mars untermauert werden soll. ("the marked similarity of the rune to the symbol for the planet Mars" Halsall 1981). Das ist insofern Quatsch, als diese Planetensymbole frühestens im 12. Jh. in obskuren Schriften in Europa auftauchen, und erst ab dem 16. Jh. weiteren Kreisen bekannt sind (Maunder 1934). Wenn mir jemand das Mars-Symbol ♂ in einem altenglischen Manuskript zeigen kann, werde ich bereit sein, auf diese Hypothese zurückzukommen...

Zier
Zweitens ist die Gedichtzeile glossiert mit tir, das ist die Zier, in der altenglischen Bedeutung ein Wort für Ehre oder Ruhm. Dazu ist Tyr natürlich der skandinavische Name dieser Rune, und hier wäre das einzige Beispiel, in dem das altenglische Gedicht solchen Einfluss zeigte. Der einheimische Name der Rune wäre tiw.  Nun ist tir ja eine Glosse, die als Lösung der eigentlich als Rätsel gedachten Verse neben die Rune geschrieben steht. Da wir das Originalmanuskript nicht mehr haben, können wir nicht mehr wissen, ob die Glosse von derselben Hand wie das Gedicht stammt, oder ob sie später hinzugefügt wurde. Das wäre in diesem Fall von grösstem Interesse. Die eigentliche Rätselzeile stünde einfach da als biþ tacna sum ..., also  "ᛏ ist ein Zeichen ...". Die vorgeschlagene Lösung wäre hier tir biþ tacna sum "Die Zier ist ein Zeichen...", aber genausogut hätte das Rätsel ja aufgelöst werden können als tiw biþ tacna sum "Ziu ist ein Zeichen...". 


Die Lesung als tir "Zier" macht nun, im Gegensatz zur Interpretation als Polarstern, die Erwähnung der æþelingas ("Edlen") verständlich. Die Zier, also ruhm- und ehrenvolle Tugend ist das Zeichen der Edlen. Nach dem Wortlaut des Rätsels sind es nicht etwa die Edlen, die der Tugend  die Treue halten, sondern die Tugend, die als Leitstern den Edlen die Treue hält und "über allen nächtlichen Nebeln" auf Kurs bleibt. Es stellt sich also heraus, dass die Lesung von tir als Zier (Tugend) nicht eine Alternative zur Interpretation als Polarstern ergibt, sondern eine Ergänzung, die ein vertieftes Verständnis ermöglicht. Der Polarstern ist das Symbol für Tugend, oder besser gesagt, die Verlässlichkeit der Axis Mundi in der Ordnung des Makrokosmos findet ihre Entsprechung in tugendhaftem Verhalten in der sozialen Ordnung des Mikrokosmos, und der Stern, der treu den Himmelspol begleitet und ziert findet seine Entsprechung in der Ehre, der Zier des tugendhaften Menschen.


Ziu

Und wer ist es denn, der sowohl über die Zier des Himmels als auch die Zier des Mannes wacht? Natürlich Tiw, unser Ziu, der alte Teiwaz, der Gott sowohl des hellen Himmels als auch des þingan (des Dings, der Landsgemeinde). Sein Zeichen am Himmel mag sehr wohl ein Stern sein, sein Zeichen auf der Erde ist die Rune ᛏ.
Das Wort Zier gehört zu ihm, althochdeutsch war es ziarî, germanisch wohl tērī, mit einer Bedeutung von "Glanz, Schönheit, Pracht", zunächst von der Sonne und der Schönheit der Natur überhaupt, aber dann auch vom weltlichen Glanz von Waffen, Rüstung, Kleidung und Schmuck, und früh auch schon in einer Bedeutung von "Rang, Ordnung, Anordnung" (wovon schliesslich auch engl. tier "Reihe"). Die sprachliche Wurzel von diesem Wort ist letztlich das alte indogermanische dei- "glänzen", das im Namen von Ziu selbst steckt. Damals, in der rekonstruierten Welt der frühesten Bronzezeit, hiess deiwo "himmlisch; Himmlischer", und daneben gab es dēiro (dīro) mit der Bedeutung "strahlend, glänzend, schön".

Das ist alles viel zu stimmig, um hier einfach "the poet's confusion" (Jones 1967) oder bewusste "christliche Redaktion" anzurufen. Doch sowohl die "tir" als auch die "os" Strophe im angelsächsischen Runengedicht kann ohne weiteres heidnisch interpretiert werden können, ohne die geringste Annahme christlicher Eingriffe, sei es durch Zensur oder durch Unverständnis. Dass hier nicht "confusion" im Spiel war, sondern Witz, hat Kathleen Herbert (Looking for the Lost Gods of England, 1994) vorgeschlagen: "The alterations to the [...] god-names have been made with care and respect [...]. The original meaning of the runes is clearly signalled; even the original god-names have been smuggled in by means of bi-lingual puns" (S. 32).

Die Verse zu os gehen so:
  [os]      biþ ordfruma ǣlcre sprǣce / wīsdōmes wraþu ond witena frōfur and eorla gehwām ēadnys and tōhiht.
  [os]      ist der Ursprung jeglicher Sprache / Stütze der Weisheit und Trost der Weisen / und jedem Krieger Segen und Hoffnung
Wenn wir den abenteuerlichen Vorschlag, hier sei von Lateinisch os "Mund" die Rede, einmal beiseite lassen, was ist wohl Lösung dieser Rätselverse? Wer ist Stütze der Weisheit und Hoffnung der   (adligen) Krieger (earl, eorl, "Häuptling, dux"), und ist zugleich der Ursprung der Sprache, nämlich der Poesie und der Wissenschaft? Genau, er. Die Runen hat er auch gefunden. Zu sagen "der Mund" im Sinn von "die Sprache" sei "Trost der Weisen" ginge ja noch, aber wieso soll ein eorl auf "die Sprache" (geschweige denn "den Mund") hoffen? Er hofft auf etwas ganz anderes: ein Willkomm in Wallhall und einen Sitz unter den Einherjar.

Mein Eindruck ist also, dass diese zwei Strophen des Runengedichts sehr wohl noch die Götter beschreiben, nach denen diese Runen in heidnischer Zeit benannt waren. Ob das bedeutet, dass das Runengedicht älter als das 8. Jh. ist, oder dass diese Zusammenhänge sehr wohl ein oder zwei Jahrhunderte erhalten bleiben konnten, sei dahingestellt. Es gab im 8. und 9. Jahrhundert eine "Runennostalgie" unter gelehrten Angelsachsen. Das mag sehr gut eine allgemeinere "Heidentum-Nostalgie" nach dem fyrn sidu des 7. Jh. gewesen sein, ohne dass es sich dabei jetzt um einen anti-christlichen "heidnischen Untergrund" gehandelt haben muss: gewiss konnte man im 8. Jh. ein guter Christ sein und trotzdem der alten und jetzt irgendwie überflüssig gewordenen Kultur nachtrauern. In so einem Umfeld würde ich das Runengedicht sehen, und übrigens auch Beowulf und einen guten Teil der altenglischen Dichtung überhaupt.


Was wir aus dem Runengedicht über Tiw (oder seinem tir) erfahren können, möchte ich deshalb ernst nehmen, und nicht auf "Konfusion" oder "Redaktion" abschieben. Daraus ergibt sich das Bild eines Gottes, der für die Ordnung sowohl im Makrokosmos als auch im Mikrokosmos steht, und dessen Zeichen der Glanz, d.i. die Zier erstens des Himmels, zweitens des Waffenschmucks und drittens der Tugend ist.

Insofern er auch Kriegsgott ist, entspricht er ganz sicher nicht dem Mars, dem blutigen Ares, mit dem er im römischen Reich faute de mieux identifiziert wurde. Das blutige, grausame Wüten des Kriegs ist die Provinz eines anderen (aber allzu ähnlichen?) Gottes. Ziu ist der Gott eines ehrenhaften, wohlüberlegten, geordneten, strategischen Kriegs, der an seinem Ding nach reiflicher Überlegung beschlossen wurde. Ein Pazifist würde vielleicht sagen, ein solcher Krieg sei eine Illusion. Aber die, die an Ziu und an seine Zier glaubten, waren keine Pazifisten; und haben neben Ziu einen Wotan gestellt, wie auch die Griechen eine Athene neben dem Ares hatten, genau weil, wer kein Pazifist ist, die Grenze zwischen geordnetem und rausch- oder wahnhaftem Krieg gut kennen muss (denn jenseits des Rausches und verbrüdert mit ihm wartet noch ein dritter, d.i. der barbarische, unehrenhafte Krieg der Folterkeller und Genozide).

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