Freitag, 17. Februar 2012

Somafera

Die Informationen in diesem Artikel beruhen ausschliesslich auf Online-Recherche. Zweck dieser Seite ist die Illustration des historischen und ideellen Hintergrundes unseres Ziuwig.

Kin of the Old Gods

Kin of the Old Gods war eine neuheidnische Gruppe in Maine,  1996 gegründet, die erstmals  im Jahr 2000 online in Erscheinung trat, und gleichzeitig ihren Bruch mit Wicca bekanntgab. Die Bezeichnung, die diese vier Leute für ihren Zugang zum Heidentum wählten war Pre-Revivalist. Dies entsprach in etwa dem Inhalt von forn sed, vor allem motiviert durch die Ablehnung einer "pseudo-keltischen" New Age Religion.

Von ihrem Magazin Di Veteres und von der Gruppe überhaupt sind nur spärliche Zeugnisse erhalten in Form von archive.org caches einer alten geocities homepage, datiert auf Oktober 1999. Di Veteres erschien scheinbar während zwei Jahren auf Papier, und dann während des Jahres 2000 online. Bereits 2001 löste sich Kin of the Old Gods auf.

Wayland und der Berserkergang

Einer der vier aktiven Mitglieder von Kin of the Old Gods schrieb unter dem Pseudonym Wayland Skallagrimsson (nach US-amerikanischer Sitte geben sich Asatruar ein altnordischen Namen, inklusive eines fiktiven Patronyms). Wayland war zu diesem Zeitpunkt ein Physikstudent, und bezeichnete sich bereits damals als Asatru priest dedicated to Odin. Ab 2002 publizierte er auf einer eigenen Website lesenswerte Aufsätze, einige davon dann 2005 auch in Buchform, etwa einen Text über Scientific Magic. Hier von Interesse sind jedoch v.a. seine Schriften zum Berserkergang; ein Artikel, der sich bereits  2002 auf years of study and dedication berief, stellt den fundiertesten mir bekannten Bericht von jemandem dar, der sich ernsthaft im Selbstversuch mit diesem Thema befasst hat. Seit 2007 ist seine Website unter der Domain uppsalaonline.com.

Somafera und Jähzorn

Ab etwa 2004 benutzte Wayland den Begriff somafera. Es ist dies sein selbst erfundenes Wort für das Phänomen des Berserkergangs betrachtet aus einer kulturell neutralen Perspektive, also nicht notwendigerweise mit Odin oder der Wikingerzeit zusammenhängend sondern eine spirituelle und physische (oder eben psychosomatische) Erfahrung die jeder menschlichen Erfahrung zugänglich ist.
Das Wort somafera ist dabei nicht unbedingt sehr glücklich gewählt, nach Waylands Aussage a combination of Greek and Latin translating as  "the body wild". Gemeint also vermutlich lat. ferus "wild" und gr. τό σῶμα "Körper". Die gewünschte Bedeutung ergäbe sich also eher durch soma ferum, oder wohl doch besser (damit es nicht zusehr nach somniferum tönt) theriosoma. Aber das sind philologische Spitzfindigkeiten. 

Unter die historischen Ausprägungen dieses Phänomens zählt er neben den Berserkern und (für Alemannen interessant) den Perchtenlauf auch die Mänaden, den "warp-spasm" (ríastrad) des Cuchulain, und andere ekstatische Traditionen wie die Whirling Dervishes, die nordamerikanischen Ghost Dance und Sun Dance, ebenso wie ekstatische Formen der nordamerikanischen Pfingstbewegung und anderes. Somafera ist das, was in der germanischen Tradition wōd- "Wut" heisst,  das charakteristische Hauptattribut des "Germanischen Merkur" Wōdinaz. Die Erfahrung dieses Zustandes ist aber offensichtlich nicht einer einzelnen Kultur oder Tradition vorbehalten, sondern anthropologisch gesprochen universal. Sie ist aber dennoch nicht jedem zugänglich, sondern eine individuelle Anlage. Diese "Begabung" ist keineswegs etwas durchwegs erfreuliches, sondern tritt vorwiegend als psychische Störung auf, umgangssprachlich als Jähzorn,  die psychiatrische Medizin hat dafür die Bezeichnung intermittent explosive disorder (IED), zumindest im angelsächsischen Raum; international spricht man allgemein von Störung der Impulskontrolle, worunter insbesondere Spielsucht, Pyromanie, Kleptomanie, sowie "pathologisches Haarezupfen" fallen, alles nicht unbedingt Symptome, die allzunahe an Jähzorn liegen. In der deutschsprachigen Psychiatrie scheint der Umgang mit Jähzorn als eigenständigem Symptom eher stiefmütterlich gewesen zu sein (ein Umstand, der allein für sich eine vertiefte Betrachtung verdiente). Gängig ist es wohl, Jähzorn als einen von vielen Indikatoren im weiten Feld der pseudo-Diagnose "ADHS" unterzubringen. Immerhin erschien 2007 in Buch zum Thema, von einem Theodor Itten (Springer Verlag), angeblich "das erste deutschsprachige Buch, das Jähzorn öffentlich thematisiert".

Waylands Somafera Theorie (IED and the Berserkergang) besagt, dass im Individuum eine Tendenz zu Jähzorn bzw. IED angelegt sein kann, und zwar vermutlich erblich. Die religiösen Traditionen der Welt entwickelten Formen, in denen diese Veranlagung rituell oder kultisch zum Ausdruck kommen konnte. Im Christentum wird die Erfahrung der Ekstase durch die Pfingst-Erfahrung des Heligen Geistes auf eine "gewaltfreie" Ebene sublimiert, aber am lunatic fringe des Christentums (also bei den Quäkern und Pfingstlern Nordamerikas) entwickelten sich dennoch wieder Formen, die sich nahtlos in die Komparatistik einreihen.

Somafera ist der Zustand, der psychiatrisch als IED beschrieben würde. Es ist unbestritten, dass diese Symptome problematisch sind, und Behandlung oder Therapie benötigen, denn besonders im engen, urbanen Zusammenleben, aber letzlich überhaupt in jeder Gesellschaft, ist ein Jähzorniger eine Bedrohung für andere und sich selbst. Nur in Ausnahmefällen, also etwa auf den Schlachtfeldern der Völkerwanderungs- und Wikingerzeit, können diese Ausbrüche als gesellschaftlich nützlich gelten. Was wir von den vorchristlichen Traditionen über den Umgang mit diesem Phänomen lernen können, ist ihre Kultivierung in einem rituellen Kontext. Es ist ein psychologischer Gemeinplatz, dass, was verdrängt oder unterdrückt wird, umso unkontrollierter wieder hervorbrechen muss. Dann hilft nur noch Symptombekämpfung durch Psychopharmaka. Dies gilt auch für "durchschnittliche" Aggression, man muss nicht ein geborener Berserker bzw. IED-Patient sein, um festzustellen, dass Aggression gemanaged werden muss. Hier sind wir mitten in der "Killerspiele"-Diskussion über "Katharsis-Effekt" vs. "Abstumpfungs-Effekt". Beide Effekte sind real: Aggression, die in klar abgegrenztem, rituellem Rahmen praktiziert wird, führt zu einer Katharsis. Im Gegenteil dazu führt unreflektierte, unkontrollierte Aggression zu einer Abstumpfung und in eine Spirale zu immer mehr Aggression.

Somafera als Kampfkunst

Jähzorn bzw. IED kann ernsthafte, pathologische Formen annehmen, die schulmedizinisch oder psychiatrisch behandelt werden sollen. Nein, es war auch in der Wikingerzeit nicht einfach nur cool, ein Berserker zu sein. Skalla-Grímr, der Vater Egils, tötete in einem Wutanfall einen Nachbarsbub, und hätte auch seinen eigenen Sohn getötet, wenn nicht eine Dienerin dazwischen gegangen wäre. Egil selbst tötete im Jähzorn einen Spielkameraden mit der Axt als er sieben Jahre alt war. Auch im zehnten Jahrhundert machte man sich mit solchem Verhalten keine Freunde. 

Solange aber ein kathartischer Effekt eintritt, kann es aber wünschenswert sein, derartige Ausbrüche von Aggression in einer geschützten Umgebung ausleben zu können. Deshalb werden schwererziehbare, gewalttätige Jugendliche in Kampfsportkurse geschickt. Natürlich kann man nicht einfach einen Problemburschen in einen Kickboxing-Club schicken und das Gefühl haben, das Problem löse sich damit von selbst. Wenn aber der Rahmen stimmt, wird der kathartische Effekt eintreten: Angebote für Kinder und Jugendliche gibt es unter den Begriffen "Therapeutisches Ringen" und "Kampf-Spiele".

Unter erwachsenen Berserkern darf es auch etwas mehr zur Sache gehen, solange ein würdiger ritueller Rahmen gewahrt ist. Diese Idee hat  Wayland seit 2005 in die Praxis umgesetzt, mit einem "Shieldbiter's Cup", dem unter dem Titel Somafera as a Martial Art eine separate Seite gewidmet wurde. Es ist mir nicht bekannt, ob dieser Anlass heuer (2012) immer noch stattfindet, aber zum mindesten vier Jahre lang gab es ein Treffen im Helena National Forest in Montana (daher "Rillway Combatives Academy"). Der "Shieldbiter's Cup" war vordergründig ein Kampfsport-Turnier, mit gängiger Schutzausrüstung und Regeln ähnlich derer von MMA-Kämpfen. Die meisten Teilnehmer waren auch ausgebildet in einem Kampfsport oder in Selbstverteidigung. Das Besondere an diesen Turnieren war, dass die Teilnehmer sich als Berserker verstanden, und ausdrücklich versuchten, durch Training und Meditation, während des Kampfes in den Trancezustand des Berserkergangs zu erreichen.

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