Sonntag, 30. Dezember 2012

Jul

n.b., dieser Eintrag stammt von Dezember 2012, wurde aber in wesentlichen Punkten umgestaltet bis und mit Februar 2013

Was ist Jul?

Die kurze Antwort lautet: "Jul" ist ein norddeutsches Wort für Weihnachten. (Grimm: im östlichen Norddeutschland das weihnachtsfest, nach dem schwed. dän. jul; mit dem verbum julen, das weihnachtsfest begehen, schwed. jula)

Aber natürlich beantwortet dies nicht den gemeinten Sinn der Frage. Gemeint ist, was ist Jul "bei den Germanen", oder "im Heidentum". Zweite Antwort: "Júl oder jól war ein Winterfest bei den heidnischen Skandinaviern im 9. und 10. Jahrhundert." Auch diese Antwort ist richtig, aber nicht befriedigend. Wir wollen wissen, was war Jul "wirklich" oder "ursprünglich". Was war es vor dem 9. Jh.? Woher kommt der Name überhaupt, und was war seine ursprüngliche Bedeutung?

Zusammenfassend: Darüber wurde schon viel und lange nachgedacht. Die Meinungen sind geteilt. Manche glauben, der Name sei ein christlich-griechisch-römischen Kulturwort. Andere gehen gar von Ursprung in  "nichtgermanischem" Substrat aus. Hier komme ich nach langem Hin und Her zur eigenen Ansicht, es könne sich trotz allem um ein Erbwort handeln, und die ursprüngliche Bedeutung sei sehr weitgefasst, bezeichnete eine Jahreszeit (oder einen Jahres-Sechstel), in der vor allem gefeiert und gegessen wurde (schon, weil mitten im Winter weder Landwirtschaft noch Krieg in Frage kam). Diese Meinung, zu der ich mich mit Mühe durchringen konnte, wurde natürlich schon früher vertreten,  von Alexander Tille  (Yule and Christmas: their place in the Germanic year, 1899)

Deutsch würde das Fest wohl Jehl heissen, die zugehörige Jahreszeit vielleicht Jul (Mehrzahl Jüle).

wikingerzeitliches Julfest

Tatsächlich sieht es so aus, als hätten die Skandinavier das Julfest in der belegten Form erst im 9. Jh. eingeführt, gewissermassen als heidnische Antwort auf Weihnachten. Auch vorher gab es selbstverständlich Mittwinter-Bräuche und -Opfer, aber die scheinen nicht unter dem Namen júl / jól bekannt gewesen zu sein. Ja, sogar das Wort deutet darauf hin, dass es nicht aus dem Urnordischen stammt sondern eben um das 9. oder 10. Jh. übernommen wurde.

Die Grundbedeutung von altnordisch jól scheint am ehesten "Festmahl, Trinkgelage" zu sein. Ein früher Beleg dafür, dass jól nicht einfach "Festmahl" hiess, sondern ein kalendarisches Fest um Mittwinter war, findet sich in Haraldskvædi (um 900, die Szene ist um 870):
Úti vill jól drekka, ef skal einn ráða, fylkir enn framlyndi, ok Freys leik heyja
E
r (König Harald) will das Jul draussen (auf dem Meer) trinken ... und das Spiel Freyrs beginnen.
In der Ynglinga-saga fehlt der Begriff dagegen ganz: jene Stelle (cap. 8), wo die drei grossen kalendarischen Opfer eingeführt werden, bezeichnet das Mittwinter-Opfer einfach mit  at miðjum vetri "in der Mitte des Winters".
Þá skyldi blóta í móti vetri til árs, en at miðjum vetri blóta til gróðrar, hit þriðja at sumri, þat var sigrblót.
Zu Winter-Beginn soll ein Opfer sein für ein gutes Jahr, zu Mitte des Winters ein Opfer für das Korn, das dritte im Sommer, d.i. das Sieg-Opfer.
Die Gleichsetzung von jól mit miðsvetrar nótt und die Angabe, das Fest habe drei Nächte gedauert, und Hákon habe mit jól Weihnachten gleichgesetzt, findet man in Saga Hákonar góða 15:
Hann setti þat í lögum at hefja jólahald þann tíma sem kristnir menn, ok skyldi þá hverr maðr eiga mælis öl, en gjalda fé ella, en halda heilagt meðan jólin ynnist. En áðr var jólahald hafit hökunótt, þat var miðsvetrar nótt, ok haldin þriggja nátta jól.
Er (Hákon) machte das Gesetz, dass das Julfest gleichzeitig mit den Christen gehalten werde, und dass jeder Mann, unter Androhung von Geldstrafe, gehalten war, Malzbier zu brauen, um Jul zu heiligen. Vorher war das Julfest um Hökunott, das ist die Mittwinter-Nacht, gehalten worden und sie hielten Jol (Festmahl) während drei Nächten.
Hákon war Christ, regierte aber über ein noch heidnisches Norwegen. Dies scheint ohne grössere Probleme möglich gewesen zu sein, seine Religion wurde höflich ignoriert und er selbst unternahm auch keine Versuche, heidnische Bräuche zu unterdrücken. Die Verschiebung des Julfestes auf den Weihnachtstermin war augenscheinlich ohne gösseren Widerstand möglich; nach unserer Vermutung war das Julfest selbst damals ja noch kaum hundert Jahre alt und wohl aufgrund der Kalenderprobleme mit der etwa gleich alten Sieben-Tage-Woche herrschte wahrscheinlich sowieso schon einige Unsicherheit über den genauen Termin.
Dass Hákon, als Christ, verlangt, um Jul (also nach seinem Gesetz, Weihnachten) zu heiligen, müsse Bier gebraut werden, ist ja auch erfrischend unchristlich und zeigt, dass er mit seinen heidnischen Untertanen wohl umzugehen wusste.

Im heidnischen Skandinavien des 9. und 10. Jh. wurde bereits eine abgewandelte Version des römischen Kalenders verwendet, im Gegensatz zu den heidnischen Angelsachsen offenbar abgekoppelt von den eigentlichen Mondphasen. Nach der Christianisierung wurde dann versucht, diesen Kalender mit dem julianischen in Übereinstimmung zu bringen, daraus entstanden bis ins 13. Jh. die "Runenkalender", die den 19-jährigen Meton-Zyklus berücksichtigen. Alle Monate hatten 30 Tage, mit 4 zusätzlichen Tagen im Sommer. Das Jahr hat damit 364 Tage, oder genau 52 Wochen. 
Dieser Kalender wird sich innerhalb von nur 25 Jahren um einen ganzen Monat relativ zum Sonnenjahr verschieben. Und genau das tat er auch:  Im mittleren 10. Jh., hätten die "weisesten Männer im Land" (spökustu menn á landi)  gemerkt, dass "der Sommer zurückwich gegen den Frühling" (þá merkðu þeir at sólargangi, at sumar munaði aftr til vársins), aber sie waren nicht in der Lage zu sagen, was der Grund dafür war, nämlich dass "die zwei Halbjahre um einen Tag über die volle Woche hinausgingen" (d.h., dass das Jahr 365 Tage hat), eine Entdeckung, die laut Íslendingabók (cap. 4) Thorsteinn Surtr selbständig machte (er fann sumarauka). Da sich die Jahreszeiten im 52-Wochen-Jahr um mehr als einen Tag pro Jahr verschieben, kann der Kalender noch nicht sehr lange in Gebrauch gewesen sein, wenn um 950 die "weisesten Männer" die Verschiebung zu bemerken begannen: Allenfalls wäre das 364-Tage-Jahr in Island um 900 eingeführt worden (etwa eine Generation nach der Besiedlung). Dies stimmt gut überein mit der Evidenz der Wochentagnamen: bekanntlich hatten die südlichen Germanen die römische Benennung der Wochentage etwa im 3. oder 4. Jh. übernommen. Die Römer selbst hatten die Sieben-Tage-Woche im 1. Jh. eingeführt, und die Benennung der Wochentage nach den Planeten ist  im späten 2. Jh. nachweisbar. Der Dies Veneris wurde in der interpretatio germanica zum Tag der Frijjo, als frîatac, frīgedæg. Im Altnordischen wurde dieser Wochentag nun als frjádagr übernommen, und nicht etwa als fríggjadagr. Das beweist, dass die Woche bis in urnordische Zeit noch nicht zu den Nordgermanen verbreitet wurde, und dass die Übernahme der althochdeutschen bzw. altenglischen Wochentagnamen in der Wikingerzeit stattfand. Zusammen mit der Geschichte von Thorsteinn und der Schaltwoche würde ich also vermuten, dass die Woche und die Idee des 52-Wochen-Jahres bei den Nordgermanen im Lauf des 9. Jh. eingeführt wurde. Dies ist der "heidnische" Kalender des 10. Jh., auf den die Edda zurückblickt und der dann im 11. Jh. schliesslich mit dem "christlichen", nämlich julianischen, Kalender in Einklang gebracht wurde.

Wortherkunft


Belege für das Wort gibt es gotische, angelsächsische, skandinavische und finnische.
  • Der gotische Beleg stammt aus dem gotischen Kalenderfragment, dessen Ursprung man wohl auf das 4. Jh. datieren darf, also höchstens Jahrzehnte nach der Christianisierung der Goten (vgl. Köbler). Von hier stammt der einzige gotische Monatsname, der uns überhaupt überliefert ist, fruma jiuleis = "November". 
  • Der nächste Hinweis ist um die 300 Jahre jünger und stammt von Beda: wieder geht es um die Namen der Wintermonate. Altenglisch giuli sei der Name sowohl für "Dezember" als auch für "Januar" schreibt Beda in De Temporum Ratione xv. Dass zwei Monate sich denselben Namen teilen ist eine Besonderheit des angelsächsischen Kalenders: unterschieden wird "der vorherige" und "der nachherige" und zwar sowohl um Mittwinter: se ǽrra geóla "Dezember" und se æftera geóla "Januar" als auch um Mittsommer:  se ǽrra lýða = Juni", se æftera lýða = "Juli" (Hinweis: das g im altenglischen Wort ist nur graphisch. Orthographisches geóla entspricht phonologischem jeóla). Bereits in altenglischer Zeit hiess aber geóhol einfach "Weihnachten", und  Ðý twelftan dæge ofer geóhol bezeichnete "the twelfth day after Christmas", also Epiphanias, den 6. Januar.
  • Noch einmal um die 200 Jahre später treffen wir jól als altnordisches Mittwinterfest. Das altnordische Wort lässt sich am besten verstehen, wenn man es einfach als "Festmahl, Trinkgelage" übersetzt.
    Details zu den Belegen und der Bedeutung im Altnordischen: Die allgemeine Bedeutung von "Festmahl" etwa in der Kenning „Hugins jól“ = „Trinkgelage des Raben“. Die Ableitung jóln erhält die Bedeutung "die Götter" (also etwa "die Teilnehmer  am Festgelage, die Tafelnden") und Jólnir (also der "Herr des Festgelages oder Herr der Teilnehmer am Festgelage"?) wird ein Name Odins (Þórsdrápa 12:5-8). Skáldskaparmál 241, zugeschrieben dem Eyvindr skáldaspillir, hat  Jólna sumbl, also etwa "das Festgelage (der Götter?)", "das Julfest"(?)
    In einer komputistischen Abhandlung aus dem 13. Jahrhundert findet man noch ýlir, eine Ableitung von jól, für den zweiten Wintermonat. In jener Zeit bezeichnete ýlir die Zeit vom 14. November bis 12. Dezember
  • das Finnische entlehnte das Wort zweimal, einmal als juhla und später als joulu. Die ältere Form hat finnisch die allgemeine Bedeutung "Fest", also kompatibel mit der altnordischen Bedeutung, während joulu einfach das finnische Wort für Weihnachten ist, und also in christlicher Zeit (im späteren Mittelalter) übernommen sein worden muss. Von grosser Wichtigkeit ist das h im älteren Wort: dieser Laut war im altnordischen Wort nämlich  spätestens bei der Verschriftlichung im 13. Jh. nicht mehr sichtbar.
Jan de Vries, Altnordisches Etymo-
logisches Wörterbuch
, 1962 (1958)

Als "urgermanische" Form des Wortes wird gerne (nach Bugge 1888) ein jehwlan. Aus dieser Rekonstruktion lassen sich wohl die belegten Formen herleiten, es müssen dazu allerdings alle Register der Lautlehre gezogen werden. Genauer: man muss grammatischen Wechsel annehmen, und Suffixvarianten, so dass die belegten Formen sich herleiten täten aus den urgermanischen Vorformen:
jehwla- / jegwla- / jehwlija- / jegwlija-
Der Labiovelar übernimmt hier die Rolle einer Art von phonologischem "Schweizer Armeetaschenmesser" und soll erklären, wieso das Wort manchmal h und manchmal u hat. Eine etymologische Motivation für den Labiovelar gibt es nicht. 
Das j im Anlaut sollte im Altnordischen schwinden, also *e(h)wl(ij)a-, und aus der Variante *ewl- kommt dann sekundär wieder ein j dazu, jeul-  > júl.

Bjorvand, Lindeman, Våre arveord: Etymologisk ordbok, Oslo, 2007,  548-551. Kylstra,  Hahmo,  Hofstra,  Nikkilä  (eds.),  Lexikon der älteren germanischen Lehnwörter in den ostseefinnischen SprachenAmsterdam, 1991-2012 (I-III) Bd. I, 142f.


Dies ist eine kunstvolle, fast schon schmerzhaft technische Erklärung. Wir hätten es zu tun mit dem "Eber"-Gesetz (ebur=eofor=jöfurr), das altnordische Wörter mit j beginnen lässt, das hier für einmal ein gerade eben getilgtes j sofort wieder restituiert. Es ist mir kein anderes Wort bekannt, wo das eingetreten wäre. Überhaupt sind altnordische Wörter in jó- selten, und grossmehrheitlich Lehnwörter (mit der vereinzelten Ausnahme von jór, dem alten Wort für "Pferd", ehwaz  ).

Ich möchte deshalb eine Alternative in Betracht ziehen: Das altnordische Wort jól wäre ein Lehnwort, und zwar übernommen vom Namen des Weihnachtsfestes bei den christlichen Angelsachsen,  geól, geóhol. Dieses wurde in einer interpretatio pagana von den Skandinaviern übernommen, zusammen mit der 7-Tage-Woche und anderen kalendarischen Vorstellungen. Damit wäre die Frage zwar nicht geklärt, wie Weihnachten dazu kommt, von den Angelsachsen geó(ho)l genannt zu werden, aber das altnordische Wort käme nicht mehr als unabhängige Evidenz in betracht.

Die Frage muss nun sein, ist auch das angelsächsische Wort letztlich aus dem Gotischen entlehnt, oder können wir eine unabhängige Herkunft des angelsächsischen und des gotischen Wortes aus einem germanischen jehwlan retten? Frappant ist die inhaltliche Übereinstimmung des gotischen fruma jiulies und dem aengl. ǽrra geóla. Dies ist zweimal derselbe Name, nämlich "der erste (von zwei Monaten mit dem Namen) Jul". Einmal ist dies der November, das andere Mal der Dezember des julianischen Kalenders, was kein Problem darstellen muss, wenn man annimmt der "germanische Jul" habe etwa von Mitte November bis Mitte Januar gedauert. Der "erste Jul" von Mitte November bis Mitte Dezember konnte dann mit beiden dieser julianischen Monate zur Deckung gebracht werden, und wenn die Goten die eine, die Angelsachsen die andere Möglichkeit wählten, wäre das Evidenz dafür, dass dies unabhängig voneinander geschah.
Meine Kernüberlegung ist hier also: Die Parallelität zwischen se ǽrra geól und  fruma jiulies deutet auf gemeinsamen Ursprung, aber die Anwendung einmal auf "Dezember" und das andere Mal auf "November" spricht gegen Entlehnung und damit für gemeinsames (gemeingermanisches) Erbe.
Es ist Tilles Ansicht, dass hier tatsächlich urgermanische Verhältnisse ihre Spuren hinterliessen, und dass der "germanische Jul" einer der sechs Doppel-Monde war, die das frühe germanische Jahr einteilten.

Vor diesem Hintergrund ist nun die Meinung von David Landau, The Source of the Gothic Month Name jiuleis and its CognatesThe Jubilees Calendar in Practice (2010) zu sehen. Nach Landaus Ansicht geht das Wort  auf griech. ἰωβηλαῖος (und damit letztlich biblisch יוֹבֵל yōbēl, also "Jubeljahr") zurück. Die Goten hätten einfach die griech. Aussprache zu /julis/ vereinfacht. Das biblische "Jubeljahr" war die alle 50 Jahre wiederkehrende Schuldentilgung. Dieses Konzept wurde als "Erlösung von den Schulden" auf die Erlösung durch den Christus übertragen, und die Erscheinung des Christus auf der Erde wäre damit als ein weltgeschichtliches "Jubeljahr" verstanden worden. Die Hypothese ist, dass deshalb das Lehnwort jiuleis im Gotischen zu einem Namen für den Christus, oder für den Zeitpunkt seiner Erscheinung, wurde. Das ist eine schöne Erklärung, aber sie hat zwei schwerwiegende Schwachstellen: Erstens, wieso erscheint dann dieser heilige Name bei den frisch bekehrten Goten ganz profan als Name des Monats November? Und zweitens, was ist mit dem inlautenden /h/ in geóhol? Das letztere Problem wird von Landau thematisiert: Sein Vorschlag ist, dass dieses h ursprünglich rein orthographisch war, ein "sakrales H" für heilige Namen, so wie für Iesu manchmal Ihesu geschrieben wurde. Diese Erklärung ist zu abenteuerlich, um akzeptabel zu sein. Dieses "sakrale H" existierte wohl, aber ich kenne keinen einzigen Fall, wo es sprachwirklich geworden wäre (wir reden hier nicht über das biblische Hebräisch selbst, wo natürlich Abraham aus Abram gebildet wurde, sondern über eine mögliche Imitation dieses Vorbilds in der christlichen Spähre). Niemand kam je auf die Idee, plötzlich von "Jehesus" zu reden ("folk literalism", R. Smith, The H. of Jesus H. Christ, 1994) Aber noch entscheidender gegen diese Annahme spricht, dass das gotische Wort jiuleis eben nicht mit h geschrieben wird, und es wäre ja die gotische "sakrale Orthographie" gewesen, die dieses Wort rein schriftlich in das frühe westgermansiche Christentum transportiert hätte, wo es dann fälschlich /juhlis/ ausgesprochen worden, und wegen seiner ungewohnten Lautgestalt letztlich zu angelsächsich /jeohla/ geworden wäre. So verlockend Landaus Erklärung auf den ersten Blick scheint, ich fürchte wir müssen sie als allzu gesucht zurückweisen. Landaus Verweise auf unetymologische h in mittelenglischer Orthographie schliesslich gehen am Thema völlig vorbei, geohol, manchmal gar geohhol, ist altenglische Orthographie.

juhliz "Mittwinter"

Nachdem sich die ernsthafte Erwägung einer Entlehnung als ergebnislos erwiesen hat, müssen wir also vielleicht doch wieder von einem Erbwort ausgehen? Hier kommt das altnordische ýlir zum Zug: Got. jiuleis, aengl. giuli und an. ýlir entsprechen sich lautlich und haben alle eine rein kalendarische Bedeutung, "Zeitabschnitt im Winter", entweder "November und Dezember" (got.), "Dezember und Januar" (aengl.) oder "Mitte November bis Mitte Dezember" (an.). Dass ýlir ein Erbwort ist, kann man nicht beweisen, da die Ableitung von ý aus grammatikalisiert ist und jederzeit zwischen der Entlehnung von jól (9. Jh.) und dem Beleg von ýlir (13. Jh.) möglich gewesen wäre. Was ýlir aber nicht sein kann, ist eine direkte Entlehnung aus aengl. giuli. Die dreifache Übereinstimmung gotisch-altenglisch-altnordisch sowohl lautlich als auch in der Bedeutung "Kalenderabschnitt im Winter" erlaubt mmn. die Rekonstruktion eines gemeingermanischen Begriffs ju(h)liz. Dafür spricht das fast unglaubliche Überleben des h, das im Altnordischen keine Spur hinterlassen konnte, im finnischen juhla) "Teil des Winterhalbjahrs", ev. "mittleres Drittel des Winterhalbjahrs", also etwa die 60 Tage um Mittwinter.

Nehmen wir also an, im frühen, gemeingermanischen Kalender (um das 1.-3. Jh.) sei das Jahr in sechs Teile zu etwa 60 Tagen (nämlich zwei Monden) gegliedert gewesen. Es muss dies ein "primitiver" Kalender gewesen sein, ohne fixe Schaltregeln oder auch nur Tageszählung, es wurden einfach die Monde nach Gutdünken mit dem Jahreslauf in Einklang gebracht (nach altenglischer Evidenz (Þrilíða) wurde vielleicht ein zusätzlicher Mond um Mittsommer gezählt wann immer es nötig schien).
Diese Sechsteilung erlaubt nun sowohl eine Betrachtung von zwei Jahreshälften zu je drei Jahressechsteln als auch eine von drei Jahresdritteln zu je zwei Jahressechsteln (Grotefend 1891 dreidinge, echtendinge). Beide Konzeptionen von "Jahreszeiten" sind für die frühen Germanen belegt. Dagegen ist die Sechsteilung nicht kompatibel in eine Vierteilung nach römisch-griechischem Vorbild: Tacitus (cap. 26) berichtet, die Germanen hätten wohl Namen für Winter, Frühlung und Sommer, nicht aber für Herbst.
hiems et ver et aestas intellectum ac vocabula habent, autumni perinde nomen ac bona ignorantur.
Das mittlere Drittel des Winters hätte also juh(w)liz geheissen (und der Name des mittleren Drittel des Sommers setzt sich vermutlich in líða fort). Dieses Wort hiesse also "Mittwinter" nur insofern,  als wir mit diesem Wort nicht etwa die Sonnwende, aber auch nicht ein Fest oder Opfer von mehreren (drei oder zwölf) Tagen um die Mitte des Winters, sondern eine eigentliche "Jahreszeit" (ein Jahressechstel) meinen, nämlich der Doppelmond (die zwei Monate) während der dunkelsten Zeit des Jahres.

Nun ist aber natürlich die dunkle Jahreszeit die Zeit der grossen Feste. Und im altenglischen geóhol  und nur da, scheint sich eine Ableitung vom Namen der Jahreszeit als Name für das grosse Fest um die Wintermitte erhalten zu haben, selbstverständlich übertragen auf die christliche (oder vielmehr: römische) Ausprägung dieses Festes.

Zur Illustration nehmen wir doch ein Jahr aus dem mittleren 3. Jh. (Daten: NASA), sagen wir das Jahr 250/1 beginnend mit dem Winteranfang 250 (d.i. September 1003 AUC, r. Decius; in diesem Jahr stossen die Alemannen bis an die Donau vor): 
Neumonddaten 13.9.13.10.11.11.10.12.9. 1.8. 2.9. 3.8. 4.8. 5.6. 6.6. 7.4. 8.3. 9.
Doppelmonde1             2  juhl-       3            4 (austr-)5  lenþ-          6            
Jahresdrittelwentruz                        (lengitin)                sumaraz                         
Jahreshälften                  wentruz                                           sumaraz                      

Die Zählung der Monate beginne ich hier mit Neumonden, genausogut wäre "Monatsbeginn" bei Vollmond möglich, schon Tacitus scheint anzudeuten, dass beides gemacht wurde.  Hier wäre also gerade ein "Schaltjahr" (13. 9. 250 bis 1.10. 251), der "Winter" beginnt zum frühmöglichsten Zeitpunkt, Mitte September.  Nach dem Schaltmonat im Sommer beginnt der "Winter" 251/2 nun zum spätmöglichsten Zeitpunkt, Anfang Oktober. "Jul 250/1" dauert vom 11.11. bis zum 8.1., "Jul 251/2": 30.11.-27.1., "Jul 252/3": 19.11.-16.1., usw. Astronomisch kommt es so heraus, dass der erste Mond des Jahres sowie Ostern um Tag-und-Nachtgleiche, und Jul (juhliz) und Lind (lenþ-, líða) um Sonnwende fallen. In der historischen Realität wurde das Jahr aber wohl nach vegetativen Kriterien eingeteilt, v.a. nach dem Zeitpunkt der Ernte: Herbst (=Ernte) war nicht eine Jahreszeit sondern ein Zeitpunkt, eine Unternehmung, die das Ende des Sommers und des Jahres markierte, und der Mond nach der Ernte den Winterbeginn. Die Idee, auf den Sonnenlauf zu achten und kluge Schaltregeln einzuführen, hat man von den Römern abgeguckt. Was die von Tacitus erwähnte Vokabel für ver "Frühling" war, wissen wir nicht; vielleicht die Vorform von Lenz. [s. a.
Reconstructing the Gothic Calendar.]
Nun erst sind wir bereit, nach einer vorgermanischen Etymologie für dieses Wort zu suchen. Und dafür bietet sich unter der Liste der längst vorgeschlagenen aber insgesamt als unsicher oder unglaubhaft abgestempelter Vorschläge derjenige an, der von der Wurzel jek- "sprechen" (davon mhd. jehan, und unser beichten) ausgeht, wozu lat. iocus "Scherz, ausgelassene Unterhaltung" (davon moderne Begriffe wie jeu "Spiel", joke "Witz", juggler/Jongleur/Gaukler usw.). An diese Wurzel trat ein -lo-Suffix, also sozusagen vorgermanisch jeklo-; analog gebildet wäre das oskische Wort iuklei mit der Bedeutung "Opfer".

Demnach hätte der Doppelmond um Mittwinter seinen Namen letztlich doch erhalten als die Zeit der Feste und Opfer, die um Mittwinter gewiss schon immer stattfanden. Nicht notwendigerweise nach einem grossen kultischen Hauptfest zu einem bestimmten Termin, in dieser (gemeingermanischen) Zeit wohl eher zu verstehen als sechzig Tage, während derer man nichts anderes zu tun hatte, als sich gegenseitig einzuladen, um ein Schwein zu schlachten oder von den Wurstwaren und anderen Wintervorräten zu zehren.

In diese Kultur wurde die Christmesse übernommen, ganz offensichtlich nicht als "Umpolung" oder Ausrottung der vorhandenen Bräuche (zumal diese ja wohl nichtmal vorwiegend religiös geprägt waren) sondern einfach als weitere "Attraktion" und zusätzlichen Grund zur Freude in diesen sowieso schon als "Festtage" gekennzeichneten Jahresteil. Und so ist es ja auch bis heute geblieben.

Die Benennung der Christmesse nach einem Jahresteil im Altenglischen verleitet zu folgender Idee: Könnte es sein, dass mit dem Namen der Ostern genau dasselbe passierte? Dass also das christliche festum paschale nach seiner Jahreszeit austrōn- der Name des Doppelmondes vor lid- gewesen sein könnte? (Die Existenz einer archaischen Lichtgöttin austrōn ist unbenommen, wir wissen ohnehin, das ausos eine ur-indogermanische Göttin war, und da Beda genau dies nicht wusste, ist sein Zeugnis der Erinnerung an eine Göttin austro- ernstzunehmen).


Zwölfnächte

Zuletzt noch zu den "Zwölfnächten". Inwiefern haben sie zu tun mit dem "Jul" in frühgermanischer Zeit, einem alten kalendarischen Hauptfest um Mittwinter, das mehrere Nächte dauerte, die ursprünglichen "Weihnachten" oder "Weihnächte" nämlich? Oder woher stammen unsere "Zwölfnächte" oder "Rauhnächte" denn sonst?

(Nachtrag Epiphanias 2013)
Meine Nachforschungen dazu haben sich etwas verselbständigt, so dass ich diesen Teil nun abgetrennt habe in einen separaten Eintrag "Zwölfnächte".

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