Dienstag, 15. März 2016

Homo migrans


Oben steht eine ethno-linguistische Karte Europas in etwas ungewohnter Gestalt: Statt Völker oder Isoglossen markiert sie Kontinuität bzw. Isochronen: Dunkleres Rot bezeichnet Gebiete, deren vorherrschende Sprachen als autochthon gelten dürfen, gelb und khaki dagegen Gebiete, die rezentem demographischen und linguistischem Wandel unterworfen waren.

 [dunkelrot]: linguistische Kontinuität seit der Eisenzeit, Sprachen, die auf die indogermanische Besiedlung Europas in der Bronzezeit zurückgehen: Germanen in Skandinavien, Lateiner in Latium, Griechen in Griechenland, Balten im Baltikum, Slawen in Osteuropa, Kaukasier im Kaukasus, usw.; sicher erst eisenzeitlich (6. Jh.?) die armenische und iranische Präsenz im ostanatolischen Hochland. Alle Gebiete, die nicht in dunkelrot sind, deuten auf Invasionen und Landnahmen während der letzten 2500 Jahre.
 [rot]: Wanderungen in der vorchristlichen Antike, namentlich die römische Eroberung Italiens und die allmähliche Verdrängung von Etruskisch und anderer alter Sprachen zugunsten von Latein, die eisenzeitliche germanische Ausdehnung in Skandinavien und südlich bis an die Rheinmündung und nach Mitteldeutschland. Von der la-tène-zeitlichen keltischen Ausdehnung sind nur noch die westlichen Ränder auf den britischen Inseln sichtbar. Auch angedeutet (aber "ohne Gewähr") sind die Herausbildung einer "ur-albanischen" Gruppe im Balkan und, ausserhalb Europas, die frühe iranische (kurdische) Ausdehnung an den Euphrates und die zunehmende arabische Präsenz in der arabischen Wüste.
 [orange]: Das römische Reich und die Völkerwanderung der Spätantike: Latinisierung von Norditalien und Teilen von Gallien und Hispanien (angedeutet ausserdem ein rumänisches Kerngebiet in Wallachien). Die germanische Wanderung an den Hochrhein, die angelsächsische Siedlung in Britannien, die slawische Ausdehnung in Osteuropa, die britische Siedlung in der Bertagne. Im Osten sichtbar ist die arabische Präsenz bis an den Jordan. Ossetien (Alanien) als letzter Rest ostiranischen Präsenz in der pontischen Steppe.
 [hellorange]: Die Geschichte des frühen Mittelalters: spätestens diese Phase erzeugt ethnische Bruchstellen in Europa, die bis heute für Konflikte und böses Blut sorgen. Die fortschreitende Landnahme der Angelsachsen auf Kosten der Briten, gleichzeitig die gälische Wanderung nach Schottland. Die norwegische Besiedlung Islands. Die Romanisierung des gallischen und iberischen Kernlands. Die germanische Besiedlung der Schweiz und Österreichs, die ungarische Invasion Pannoniens, die slawische Besiedlung des Balkans, Böhmens und der Rus, die türkische Wanderung in die kaspische Steppe, und nicht zuletzt natürlich die islamische Invasion und folgende Arabisierung der Levante, Syriens, des Zweistromlands, Ägyptens und Nordafrikas.
 [gelb]: Landnahmen in späteren Mittelalter: Englische Eroberungen und Anglisierung in Schottland, Irland und Wales. Deutsche Ostsiedlung. Ausdehnung der Rus an die Wolga und nach Perm. Romanisierung in der Bretagne und im Baskenland, zunehmende Arabisierung des Maghreb. Türkische Eroberung Anatoliens. Die Walserwanderung in den Alpen. Die Reconquista. Etwas unklar die Situation der Südwestukraine (Karpathenukraine, Halych, Odessa), wohl früh slawisch, dann aber zwischenzeitlich ungarisch bzw. türkisch.
 [khaki]: Frühmoderne und moderne Geschichte: Fortschreitender Rückgang der Inselkeltischen Sprachen, ebenso zunehmende Verdrängung von Baskisch, Rätoromanisch und Berbersprachen. Ende des Tatarenjochs und Ausdehnung Moskowiens in der Frühmoderne. Der Fall von Byzanz und das osmanische Reich. Demographischer Wandel im Kosovo. Zaristische Landnahmen (Karelien, Ukraine/Donbass/Westkaukasus/Manytsch-Senke und links der Wolga, dazu Mongolen in Kalmückien). Im 20. Jh.: rumänisches Transylvanien; armenischer Völkermord; Vertreibung der Deutschen aus Polen und Tschechien; Israel; Nordzypern.


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