Samstag, 26. Dezember 2015

Vorbrand


  Wenn das ein Traum war — was war dann Wirklichkeit? Es war eine Begegnung in der Losnacht, ein Schicksalsgesicht. Er fühlte keine Furcht. Es war sehr kalt, aber zugleich siedend, wie flüssige Luft. Und nicht nur die Eltern, auch die Ahnen waren nahe in diesem Wallgraben. Heute war eine ihrer großen Nächte, ein Totenfest. Sie drängten aus dem hohlen Berg hervor.
  Der Horizont war hell geworden, der Umkreis flackerte. Es war eine große Unruhe. Waren es Wagen, Vieh und Pferde, was er im Flackern ahnte, waren es eiserne Maschinen oder Dinge ganz unbekannter Art? Der Wind pfiff über die weiten Ebenen. Die Brände leuchteten. Von ferne hörte man das Wolfsgeheul. Der Eiswind kam aus den Wolfsländern. Er klirrte am Grabenrand.
  Es herrschte die Verzweiflung, die auf Erden stets wiederkehrt. Die Erde war Staub, war Schauplatz des Untergangs und seiner Schrecken; sie lechzte nach Blutopfern. Die Rudel kamen näher und kreisten um die Wallburg; sie brachen hier und dort schon in den Graben ein. Die Flammen schlugen bis an das Gewölbe; Schlösser und Städte, Frucht und Kornland gingen in ihren Wirbeln auf. Die Lindenbäume an den Brunnen glühten, die Eichenhaine, in denen die Mistel der goldenen Sichel harrte, lohten als Fackeln in die Nacht.
  Und wieder hörte man, daß diese Wölfe nur Treiber waren; mit ihrem Heulen kündeten sie den grauen Stammherrn, der sichtbar wurde hinter seinen Meuten, so wie das Schicksal sichtbar wurde im Flammenmeer. Die Ketten sprangen, die Wölfe wurden frei. Das war die Lohe, die man in solchen Nächten als Vorbrand schaute von Irland bis zum Nordweg und von den Schlössern Westfalens bis zu den Türmen, um deren Helme der Tiroler Adler kreist.

Ernst Jünger, Besuch auf Godenholm (1952)